Anne Schulz: Lieber Herr Bettermann, Sie sind noch während des zweiten Weltkriegs geboren und haben Ihre Kindheit und Jugend im Nachkriegsdeutschland verbracht. Gab es ein erstes prägendes europäisches Erlebnis?
Erik Bettermann: Unser Geschichtsunterricht in der Schule hörte damals mit dem Jahr 1919 auf. Es wurde weder über die Weimarer Republik noch über die Nazi-Zeit noch über die deutsche Teilung gesprochen. Konfrontiert wurde ich aber schon früh mit der deutschen Verantwortung, mit der europäischen Geschichte. Mit einer Gruppe der evangelischen Jugend machten wir in den 50er Jahren Radtouren in die Niederlande. Damals haben in der Jugendherberge in Amersfoort Niederländer vor uns ausgespuckt. Als ich später zum ersten Mal nach Paris fuhr, auf Klassenfahrt, hat mich mein Vater noch vor dem „Erzfeind“ gewarnt.
Ich habe gedacht, so kann das nicht weitergehen! Das hat mich sehr geprägt.
Also habe ich mich als Kreisjugendringvorsitzender zusammen mit dem Kreisjugendpfleger auf die Suche gemacht nach einer französischen Partnerregion und eine Partnerschaft zwischen dem Kreis Köln und dem Departement Morbihan mitaufgebaut. Als uns in der Bretagne der dortige Inspecteur Jeunesse empfangen hat – ich war Anfang 20, er war etwa 40 – hat er uns gesagt, wir wären die ersten Deutschen, denen er nach dem Krieg die Hand gegeben hat. Im Studium habe ich mich dann für ein Semester beurlauben lassen und bei Sardinenfischern auf der Halbinsel Quiberon in der Südbretagne gearbeitet. Da habe ich Französisch gelernt. Später war ich beim Jugendzentrum des Europarats in Straßburg engagiert, das waren schon mehr Länder als die sechs Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, und ich gehörte zu den begeisterten Aktiven bei Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks.
Welche politischen Ziele waren für Sie als junger Mensch wichtig?
Ich hatte die Kriegsfolgen gesehen, die Ruinen in Köln. Später war ich in Auschwitz. Mein Ziel war, sich für den Frieden einzusetzen, damit so etwas wie Krieg und die Ermordung von Millionen Menschen nie wieder geschieht. Ich habe mir gesagt: Du musst daran arbeiten, dass ein friedvolleres Zusammenleben der Menschheit gelingt. Ich empfand keine Schuld, aber historische Verantwortung für die deutsche Vergangenheit. Das hat sich dann durch mein ganzes Leben gezogen.
Sie engagieren sich nunmehr seit über 40 Jahren für das GSI. Wie sind Sie zum GSI gekommen?
Nachdem ich Geschäftsführer des Bundesjugendrings geworden war, lernte ich Berthold Finkelstein, der das GSI 1951 gegründet hatte, kennen und wir haben uns sofort sehr gut verstanden. Er war älter als ich und war im Nationalsozialismus verfolgt worden. Wir waren gleich auf einer Wellenlänge. Für uns war Demokratie das entscheidende Instrument, damit die Menschen sich direkt beteiligen können, nicht irgendwelche abstrakten Machtblöcke. Ich wurde Mitglied beim GSI, als der Sitz noch in Bergisch Gladbach war. Später kam der Umzug nach Bonn auf ein Grundstück, das der Bundestag dem GSI verkauft hatte.
Wie hat sich die politische Bildung seitdem entwickelt?
Politische Bildung war in den 50er Jahren sehr stark durch die Alliierten beeinflusst. Am Anfang stand Institutionenkunde im Mittelpunkt und vor allem: die internationale Begegnung. Das war etwas ganz Besonderes. Es ging darum, die Geschichte und die Nachbarländer überhaupt kennenzulernen. Das war spannend. Es war Entdeckertum.
Heute geht es darum, die Demokratie zu schützen. Ich habe die ganze Welt bereist, war in 180 Ländern und habe erlebt, wie Menschen Führungspersönlichkeiten anhimmeln. Es ist vielleicht schön einfach, wenn jemand sagt: hier geht’s lang. Demokratie ist schwieriger, Demokratie lebt vom eigenen Nachdenken. Die Demokratie verlangt das Mitwirken, das Engagement von Menschen. Es ist wichtig zu vermitteln, es darf keinen Fürst, Kaiser, Diktator oder Autokraten geben, sondern: Du musst die Demokratie gestalten. Aktuell geht es gerade in Deutschland darum, das Zusammenleben der Menschen friedlich fortzuentwickeln und sich gegen radikale und gewaltsame Attacken und Tendenzen zu wehren.
Nach einem langen und überaus erfolgreichen Berufsleben, darunter zwölf Jahre als Intendant der Deutschen Welle, sind Sie heute Präsident des GSI und üben weitere Ehrenämter aus. Welche Themen sind aktuell für die politische Bildung aus Ihrer Sicht besonders wichtig?
Die politische Bildung ist heute vielleicht noch mehr gefordert als damals. Wir kamen aus einem zerstörten Land, es gab große Armut, aber es ging aufwärts.
Heute müssen wir immer wieder klarmachen, was für ein großer Schatz es ist, in einer Demokratie leben zu können. Das Bewusstsein dafür zu wecken, was für eine Chance wir haben, die Demokratie mitzugestalten. Und natürlich ist das demokratische System immer wieder verbesserungswürdig.
Seit der Aufklärung steht das Individuum im Mittelpunkt, seine Chancen, seine Förderung, aber auch seine Verantwortung. Der letzte Punkt ist uns noch nicht ganz gelungen.
Politische Bildung muss den Menschen ihren Handlungsraum, aber auch ihre Handlungsnotwendigkeit, aufzeigen. Die Förderung des Individuums bedeutet immer auch die Verantwortung des Individuums für das Ganze. Da muss politische Bildung aktiv sein und ist es auch. Mitwirken-Können heißt auch Mitwirken-Müssen!
In sechs Wochen wird das Europäische Parlament neu gewählt. Welchen (Geburtstags-)Wunsch haben Sie für den Wahlausgang?
Erstens: Viele Menschen sollen wählen gehen! Zweitens sollten sie bitte eine grundlegende demokratische Partei unterstützen. Es geht um die großen Linien, nicht um Partikular-Interessen. Es geht um Frieden, um Kooperation und um den Ausgleich zwischen Nord und Süd und gegen rechts-radikales Gedankengut. Die Lehren des zweiten Weltkriegs sind immer noch wichtig. Europäische Zusammenarbeit ist ohne Alternative. Also: Wählen gehen!
Vielen Dank!
Fotos: © BrigittaLeber