Schlafwandler oder Akteur? - Europa und der Nahe Osten

Der 6. Nahost-Talk des Gustav-Stresemann-Instituts und der Deutschen Initiative für den Nahen Osten (DINO) widmete sich am 9. Oktober 2017 „Einfluss und Macht im Nahen Osten“. Im Mittelpunkt standen Fragen zu den Interessen Irans und Saudi-Arabiens im syrischen Krieg und der Rolle Russlands in der Region? Ein Thema, das auf großes Interesse bei dem zahlreich erschienenen Publikum stieß.

 Dr. Ansgar Burghof, Direktor und Vorstand des GSI, betonte bei der Begrüßung, dass der Krieg in Syrien längst ein internationaler Krieg sei, „nicht zuletzt ein Stellvertreterkrieg zwischen Washington und Moskau“. Die „um Vormacht in der Region kämpfende Staaten Saudi-Arabien und Iran“ seien ebenfalls tief involviert. Deshalb liege der Schlüssel zum Frieden nicht alleine in Damaskus. Burghof betonte, dass man beim Nachdenken über die machtpolitische Lage allerdings nicht die Werte, die dem Handeln zugrunde liegen sollten, vergessen dürfe. Er zitierte den Historiker Heinrich August Winkler, der vor einer Realpolitik warnt, die nur die Wirklichkeit der Macht, nicht aber die Wirksamkeit von Werten anerkennt.

„In dieser Situation sind die Europäer außenpolitisch so sehr gefordert wie selten zuvor“, erklärte Prof. Jürgen Bremer von der Deutschen Initiative für den Nahen Osten. Europa beschäftige sich jedoch eher mit dem Brexit oder Katalonien und behandle die Lage im Nahen Osten vor allem unter dem Aspekt der Flüchtlingspolitik.Bremer verglich die aktuelle Situation mit der  Lage vor dem 1. Weltkrieg und fragte eindrücklich, ob die Staatengesellschaft wieder wie „Schlafwandler“ agiere? Insbesondere Deutschland müsse sich der Frage stellen, „ob und wie wir die Idee freiheitlichen Demokratien in unserer Nachbarschaft verteidigen können“.

 

Die Einschätzung, dass Europa gefordert sei, wurde von den Podiumsgästen geteilt. In dem Maße, in dem sich die USA als „Weltpolizist“ aus der Region verabschiedeten, sei Russland das Feld überlassen worden. Der ehemalige Staatsekretär im Auswärtigen Amt, Jürgen Chrobog, betonte, dass Russland als „Gewinner“ der Lage in Syrien gelten könne. Der schwere Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran spiele eine verhängnisvolle Rolle. Hier würden „Machbestrebungen auf übelste Art ausgetragen“. Dies führe zu einer hoch komplexen, machtpolitischen Situation. 

Ein Resultat der wechselnden Kriegsbündnisse sei, dass der IS inzwischen als „territoriales Phänomen“ am Ende sei, so Aktham Suliman, syrischer Journalist und Buchautor. Auch wenn es geradezu „peinlich“ wäre, dass der IS gemeinsam durch den Westen, die kurdischen Verbände, Russland und die syrische Armee besiegt wurde. Das Ende der territorialen IS-Herrschaft bedeute jedoch nicht, dass die Ideologie besiegt sei, ergänzte Daniel Gerlach, Herausgeber des Magazins „Zenith“. Und Bente Scheller, Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, wies darauf hin, dass die Probleme, die die Formierung des IS befördert hätten, politisch immer noch nicht gelöst wären. Als Beispiel nannte sie die Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen und Provinzen im Irak.

Scheller ergänzte, dass sich die Machtverhältnisse nach sechs Kriegs-Jahren zugunsten der syrischen Armee unter Präsident Assad verschoben hätten. Dieser habe es „glänzend“ verstanden, Zeit zu gewinnen, um seine Position zu festigen. Scheller nutzte für diese Strategie den markanten Begriff „Syria‘s Waiting Game“ (auch der Titel ihres Buches zu Syrien) geprägt. Die syrische Regierung sei auch so stark wegen der „Schwäche und Zurückhaltung des Westens“. 

 

Als Problem für eine zukünftige Stabilisierung in der Region diskutierte das Podium, dass die Bevölkerung in der Region vielerorts das Vertrauen in jede Art von Staat verloren habe. Der Staat würde nicht als Garant von Recht und Ordnung wahrgenommen. Zudem leide die Glaubwürdigkeit des Westens darunter, wenn die Einhaltung von Menschenrechten nur selektiv gefordert würde. Jürgen Chrobog wies auf den Krieg von Saudi-Arabien im Jemen hin und sprach von einem unerhörten Verbrechen gegen die Menschenrechte: „Der Jemen wird zerstört und die Menschen sterben.“ Chrobog stellte die Frage, ob weitere Waffenlieferungen an Saudi-Arabien in dieser Situation überhaupt zu  verantworten wären. Da müsse Europa seinen Einfluss geltend machen. 

 

Aktham Suliman forderte, die Menschenrechte, generell die Bürgerrechte, in den Mittelpunkt zu stellen. Mit Blick auf die verschieden Volksgruppen erklärte er, es müsse in den Staaten des Nahen Ostens ein System gefunden werden, dass die „Einheit bewahre und Diversität zulasse“.

An der Fortsetzung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand bzw. Frieden in Syrien führe kein Weg vorbei, darüber war sich das Podium einig. Langfristig müsse über eine Art Marschallplan für die Nahost- und Nordafrika- Region nachgedacht werden, regte Daniel Gerlach an. Er sehe eine Generation von sehr klugen und engagierten Leuten, die „die Nase voll“ hätten von „den alten konfessionellen und ererbten Konflikten“. Diese Generation müsse man unterstützen, auch im Kampf gegen Korruption und Oligarchien. 

Mit diesem kleinen Hoffnungsschimmer endete eine engagierte Debatte, die der Journalist Thomas Nehls erneut souverän moderierte. Nehls erinnerte zu Beginn der Veranstaltung auch an die Außenpolitik-Expertin Dr. Sylke Tempel, die am 5. Oktober 2017, dem Abend des Orkans, in Berlin verunglückte. Tempel hatte sowohl mit dem GSI als auch mit DINO zusammengearbeitet. 

 

Fotos: Eduard N. Fiegel