„Europa mit den Augen der Anderen sehen“

Im Festsaal der Universität Bonn gab es am 10. Dezember 2018 eine Premiere: Die erste Stresemann-Lecture am Jahrestag der Nobelpreisverleihung an Gustav Stresemann und Aristide Briand. Die vom GSI initiierte Veranstaltung, die von nun an jährlich stattfinden wird, verbindet die Würdigung des europäischen Verständigungswerks von Stresemann und Briand mit der Analyse aktueller Europapolitik und der Formulierung europäischer Visionen.

Prof. Tilman Mayer, von der Universität Bonn, würdigte in seiner Begrüßung die „Kunst des Außenpolitikers“ Stresemanns, der aus einer Position der Schwäche so erfolgreich Realpolitik betrieben habe. Dr. Ansgar Burghof bedankte sich Prof. Mayer  für die Kooperation bei dieser ersten Lecture. Burghof betonte in seiner Begrüßung, dass die Verträge von Locarno „eine Grundlage für Frieden und Verständigung in Europa schufen“ und forderte: „Wir brauchen heute, mehr denn je, diplomatisch versierte, verantwortliche Politikerinnen und Politiker, die, nach einer rationalen Analyse, gemeinsam die Vision für eine gute Zukunft entwickeln können.“

Prof. Dr. Tilman Mayer, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie; Dr. Ansgar Burghof, Direktor und Vorstand des Gustav-Stresemann-Instituts

Dr. Christina Stresemann, Richterin am Bundesgerichtshof, nannte ihren Großvater einen „Mann der Mitte und des Maßes“. Sie begrüßte die Stresemann-Lecture als eine Initiative, „den Namen Gustav Stresemanns zu ehren“ und gegen Vereinnahmungsversuche von weit rechts stehenden Europa-Skeptikern zu schützen.

Dr. Christina Stresemann, Richterin am Bundesgerichtshof

Die Lecture unter dem Titel “Von Locarno zum Brexit“ wurde vom deutschen Botschafter in Luxemburg, Dr. Heinrich Kreft, gehalten. Er erinnerte an die überaus komplizierte Ausgangslage der Verhandlungen von Locarno. Frankreich habe zu Recht sehr große Vorbehalte gegenüber dem deutschen Nachbarn gehegt. Da Stresemann jedoch, als weitsichtiger Politiker, nicht nur die eigenen nationalen Interessen verfolgt habe, sei es gelungen, gemeinsam mit Briand, „eine verfrühte Version eines versöhnten Europas“ zu entwerfen. Neben dieser Aussöhnung gehöre die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund zu den großen Leistungen des Außenministers. Stresemanns Politik sei dabei von der durchaus modernen Erkenntnis geleitet worden, dass langfristig nationale und internationale Interessen nicht im Widerspruch stehen müssten und zudem der wirtschaftliche Austausch die Völker zusammen bringe. 

Dr. Heinrich Kreft, Deutscher Botschafter in Luxemburg

Heinrich Kreft schlug danach den Bogen von der Weimarer Republik zur europäischen Gegenwart. Er nannte den Brexit eine “lose-lose-Situation“, aus der “die EU kleiner und schwächer“ hervorgehen werde. Der ausgehandelte Vertrag zwischen der EU und Großbritannien sei „größtmögliche Schadensbegrenzung“. Allerdings habe der Brexit die EU27 auch näher zusammen rücken lassen.

Die EU müsse nun ihre innere Verfasstheit stärken und die gemeinsame Außenpolitik wie die militärische Handlungsfähigkeit ausbauen. Er beobachte eine erfreulich lebhafte Debatte über die Zukunft der Europäischen Union. Hier sei hilfreich, ganz im Sinne Stresemanns, „Europa mit den Augen der anderen Europäer zu sehen.“  Als Beispiel für eines der aktuellen Probleme, die gelöst werden sollte, nannte Kreft die Migration. Diese Lösung müsse auf drei Elemente umfassen: die Verständigung über gemeinsame Werte, solidarische Teilung der Lasten und offene Innengrenzen.

Die Nationalstaaten verkörperten kulturelle Identitäten, Europa sei aber überall dort  notwendig, wo „Nationalstaaten nicht mehr effektiv handeln können.“, erklärte der Botschafter. Denn, so Kreft „die großen Fragen wie Klimawandel  sind nicht mehr alleine lösbar!“  Wenn alte Gewissheiten wegbrächen, müsste dagegen ein positives Europabild gesetzt werden.

Heinrich Kreft nannte die Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2019 die wichtigste EP-Wahl, die es jemals gegeben habe und rief alle europäische gesinnten Bürgerinnen und Bürger dazu auf, für die Wahl zu mobilisieren.

Im dem anschließenden, intensiven Austausch mit dem Publikum wurden viele Aspekte europäischer Politik aufgegriffen und die Einschätzungen des erfahrenen deutschen Botschafters erfragt.

Ein überaus gelungener Auftakt für die neue Stresemann-Lecture, die vom Gustav-Stresemann-Institut und der Universität Bonn gemeinsam veranstaltet wurde, so lautete die einhellige Meinung von Gästen und Veranstaltern.

Prof. Tilman Mayer dankte Dr. Heinrich Kreft sehr herzlich, dessen Vortrag bewiesen habe, wie umfassend die europäischen Perspektiven dargestellt  werden könnten. „Wir sehen uns in einem Jahr wieder!“,  schloss Prof. Meier die Veranstaltung.

Fotos: Eduard N. Fiegel

v.l.n.r.: Dr. habil. Landry Charrier, Leiter des Institut français Bonn, Attaché für Hochschulkooperation der französischen Botschaft, Dr. Ansgar Burghof und Dr. Christina Stresemann

Ying Huang und Prof. Tilman Mayer