„Wir wissen immer noch so wenig voneinander“

Die gegenseitige mediale Wahrnehmung in Frankreich und Deutschland stand im Mittelpunkt der 2. deutsch-französischen Medienfachtagung, zu der das GSI am 4. Juni eingeladen hatte. Unter dem Eindruck der Wahlen diskutierten Vertreter aus Medien, Wissenschaft und Kultur den Zustand Europas und der deutsch-französischen Beziehungen entlang medialer Entwicklungen. Zum Abschluss der drei Foren beschrieb GSI-Direktor Dr. Ansgar Burghof die gegenwärtige Situation als Zeitenwende, die das GSI mit weiteren Medienfachtagungen begleiten werde.

In seiner Begrüßung hatte Burghof den Fokus der Medienfachtagung umrissen: „Wir werden über die Europawahl sprechen, es wird um die digitalen Plattformen gehen – die ja im deutschen Wahlkampf auf den letzten Metern eine überraschend große Rolle gespielt haben –  und wir werden uns mit dem beruflichen Selbstverständnis auseinander setzen.“ Auch das deutsch-französische Verhältnis müsse vor diesem Hintergrund diskutiert werden: „Haben wir statt der postulierten, echten Freundschaft tatsächlich eher ein strategisches Bündnis, eine Allianz, um den Einfluss innerhalb Europas zu sichern? Und was geschieht mit diesem Bündnis, wenn die gemeinsame Basis immer kleiner wird? Wenn die beiden Regierungen den von Präsident Emmanuel Macron geforderten ‚Neubeginn in Europa‘ so ganz unterschiedlich definieren? Welche Folgen hat dies für unsere Staaten, für Europa?“ Auf dem Tisch lägen also eine Menge Fragen, so Burghof, die im Rahmen der Tagung erörtert werden müssten.

Michael Thieser, Geschäftsführer des Deutsch-Französischer Journalistenpreis, verwies in seiner Keynote auf einen tiefgreifenden Wandel in der Medienwelt und stellte die Frage, ob „wir so etwas wie eine Auflösung des Faktischen“ erlebten, „sodass eine an der Realität sowie an der Objektivität und Wahrhaftigkeit jedes einzelnen Diskursteilnehmers orientierte Debatte immer schwieriger wird“. Thieser weiter: „Sind wir morgen noch in der Lage, uns gemeinschaftlich darüber zu verständigen, was wir als Wahrheit anerkennen und wie wir übermorgen leben wollen, wenn jeder nur noch in seiner Filterblase unterwegs ist?“ Auch die Tatsache, dass viele politische Akteure ihre eigenen Newsrooms und Distributionswege betrieben, griff Thieser in seiner Keynote auf. „Dies bedeutet, der Moment der kritischen Nachfrage durch unabhängige Journalisten – vor den Augen der Öffentlichkeit – mit dem Potential der Überraschung, des Situativen und dem Risiko, dass der Gegenüber in Verlegenheit und Erklärungsnot gerät, wird immer seltener, findet immer weniger statt“, so Thieser. „Dies ist aus meiner Sicht keine Petitesse, sondern ein schleichendes Gift, das in die gesamte öffentliche Debatte – auch in Europa – immer stärker einsickert, ohne dass wir es vielleicht merken und am Ende, wenn wir nicht aufpassen, die Demokratie als multimediale Inszenierung zurücklässt.“ Thieser forderte zum Abschluss seiner Keynote, dass Medienkompetenz und der Umgang mit den digitalen Plattformen zu einem Schulfachfach werden sollte. „Die Zeit – so meine ich – ist mehr als reif dafür, um der weiteren Segmentierung der Öffentlichkeit entgegenzuwirken.“


Prof. Dr. Guido ThiemeyerIsabelle MarasDr. Landry CharrierÄnne Seidel

v.l.n.r.: Prof. Dr. Guido Thiemeyer, Isabelle Maras, Dr. Landry Charrier, Änne Seidel


Unter der Moderation von Patrick H. Leusch, Head European Affairs, Deutsche Welle, diskutierten drei Expertenrunden das Zusammenwirken aktueller Entwicklungen in Medien, Gesellschaft und Politik. Im ersten dieser Foren ging es um die Europawahl im Spiegel der Berichterstattung und als Gradmesser für die demokratische Debatte. Schon nach wenigen Minuten diskutierten Dr. Landry Charrier, Leiter Institut français Bonn, Attaché für Hochschulkooperation der französischen Botschaft, Isabelle Maras, Internationale Expertin zur Unterstützung der Außen- und Partnerschaftsbeziehungen der Deutsch-Französischen Hochschule, Prof. Dr. Guido Thiemeyer, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, sowie Änne Seidel, Deutschlandfunk, DFJP-Preisträgerin für „Wo Bilder von Freund und Feind verschwimmen“, das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit und wie diese gestaltet werden könne. Sowohl Seidel als auch Thiemeyer zeigten sich skeptisch, dass diese realisiert werden sollte. Für Thiemeyer war insbesondere die Sprachbarriere ein Hemmnis. „Ich wünsche mir ja auch, dass die nationale Blase platzt, das wird aber nicht klappen“, konstatierte Thiemeyer. Isabelle Maras warnte gleichzeitig davor, zu viel auf einmal zu erwarten: „Wie europäische Öffentlichkeit ist eine Entwicklung. Rom wurde nicht an einem Tag gebaut – das gilt auch für Europa.“ Die Runde thematisierte auch die von Burghof und Thieser genannten Veränderungen. „Die Welt, in der wir uns bewegen, ist deutlich komplexer geworden. Genauso sind die Aufgaben, denen wir uns stellen müssen, deutlich komplexere“, griff Landry Charrier den Punkt auf. Er verwies in dem Zusammenhang auch auf eine neue Generation von Politikern in Frankreich, die jung sei und Politik mit anderen Vorstellungen machen als ihre Vorgänger.

Dr. Mario AnastasiadisLena KronenbürgerDonatien HuetPatrick H. Leusch

v.l.n.r.: Dr. Mario Anastasiadis, Lena Kronenbürger, Donatien Huet und Moderator Patrick H. Leusch im Publikum

Im Mittelpunkt des zweiten Forums standen unter anderem die verschwimmenden Grenzen zwischen Journalisten, Autoren, Bloggern und Influencern. „Qualität ja bitte! _ aber auch im Netz“ lautete die These, die Dr. Mario Anastasiadis, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Bonn, Wissenschaftlicher Koordinator und Geschäftsführer des Forschungsverbundes NRW Digitale Gesellschaft, Donatien Huet, Redakteur Mediapart, Paris, DFJP-Preisträger für „Steigende Meere“, und Lena Kronenbürger, Freie Autorin, Chefredakteurin 42 Magazine, diskutierten. Kronenbürger etwa hob den Austausch zwischen Produzenten und Rezipienten von Netz-Inhalten als positive Facette der Digitalisierung hervor. Huet berichtete über ein Crowdsourcing-Projekt zur Polizeigewalt in Frankreich, das ohne die Möglichkeiten des Internets nicht möglich gewesen sei. Der Content, den Nutzerinnen und Nutzer lieferten, werde jedoch erst nach einem strengen Faktencheck durch die Redaktion publiziert. Am Beispiel des Youtubers Rezo erörterten Podium und Teilnehmer auch die Kriterien journalistischen Arbeitens. „Man sollte seine normativen Prinzipien als Journalist in die digitale Welt übertragen“, machte Anastasiadis deutlich. Gleichzeitig sei es völlig legitim, dass Menschen die Möglichkeiten des Internets für die Verbreitung ihrer Standpunkte nutzten. Huet zeigte sich zuversichtlich, dass das Publikum „die Trennlinie zwischen Journalisten und Youtubern“ verstehe.

Birgit HolzerClaus JostenMichael ThieserForum 3

v.l.n.r.: Birgit Holzer, Claus Josten, Micheal Thieser

Das dritte Forum zur „Rolle des Journalismus in der europäischen Krise“ arbeitete am Beispiel der Gelbwesten- Bewegung und des Wirkens von Präsident Emmanuel Macron heraus, wie unterschiedlich die mediale Darstellung in Frankreich und Deutschland ist. Birgit Holzer, Frankreich-Korrespondentin, beschrieb zu Beginn, wie facettenreich die Gelbwesten-Bewegung sei und es darum schwer falle, sie in Deutschland zu vermitteln. Bei der Vermittlung des Phänomens kommt laut Michael Thieser, Geschäftsführer des Deutsch-Französischen Journalistenpreises (DFJP), noch hinzu, dass Redaktionen in Deutschland sich vor einer Berichterstattung zunächst gescheut hätten, aus Sorge, „der Funke könne überspringen“. Claus Josten, TV- und Radio-Autor, Kulturberater, DFJP-Preisträger für „Galeeren-Rap“, machte die Ursprünge der Bewegung auch an Präsident Macron und dessen Äußerungen über das französische Volk fest. „Die Leute denken: In Europa zählen wir nicht mehr, und für unseren Präsidenten zählen wir auch nicht mehr – also gehen wir auf die Straße“, erklärte Josten. Überhaupt unterscheide sich die Darstellung Macrons in deutschen Medien deutlich von seiner Wahrnehmung in Frankreich. So sei es nahezu in Vergessenheit geraten, dass Macron das öffentlich-rechtliche Mediensystem in Frankreich als Schande bezeichnet habe, so Thieser. In Deutschland hingegen werde er eher auf seine europäische Arbeit reduziert. „Wir sind immer noch an einem Punkt, an dem wir als Franzosen und Deutsche fast nichts voneinander wissen, obwohl es mittlerweile vielfältige Angebote gibt“, bilanzierte Josten.

Zum Abschluss der Medienfachtagung zeigte das GSI den vom DFJP ausgezeichneten Film „Les Klarsfeld, chasseurs de ténèbres“ von Karine Comazzi und Patrice Brugère . Die Klarsfelds erhalten im Juli den Großen Deutsch-Französischen Medienpreis 2019. Das Ehepaar bekommt den Preis für sein jahrzehntelanges Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus.