„Ein Mann des Ausgleichs, der Mäßigung, der Mitte“

Monarchist und Parlamentarier, Versöhner und Reaktionär – im politischen Wirken Gustav Stresemanns gab es unterschiedliche Phasen, die seit seinem Tod 1929 auch immer unterschiedlich bewertet wurden. Zu seinem 90. Todestag haben das GSI und die Friedrich-Naumann-Stiftung für den Frieden am 3. Oktober Experten und auch Familie des Friedensnobelpreisträgers von 1926 eingeladen, das Wirken Stresemanns neu zu betrachten.


Nach der Begrüßung durch Alexander Olenik, Programmanager des Landesbüros NRW der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, schlug GSI-Präsident Dr. h.c. Erik Bettermann in seiner Einleitung den Bogen von der Gründung des GSI bis aktuellen Entwicklungen. „Als mein guter Freund Bertold Finkelstein 1951 dieses Institut gegründet hat, stand er – und eigentlich ganz Europa – unter den Eindrücken des Zweiten Weltkriegs“, so Bettermann zu Beginn der Veranstaltung. Finkelstein sei ein Pionier für Europa gewesen, angetrieben vom Willen zur Aussöhnung, zur Annäherung zwischen den Völkern. Und habe sich damit wie Stresemann für die europäische Einigung eingesetzt. Mit der Namensgebung habe Berthold Finkelstein die Brücke zum Wirken Stresemanns als Europäer und Versöhner geschlagen. „Umso absurder, ja nahezu grotesk erschienen Ende 2017 die Vereinnahmungsversuche durch die AfD“, machte Bettermann deutlich. „Eine parteinahe Stiftung sollte nach Gustav Stresemann benannt werden. Stresemanns Friedenspolitik – auch sein Erfolg, Deutschland als vollwertiges Mitglied in den Völkerbund geführt zu haben – steht diametral zu Politik und Programmatik der AfD.“ Er begrüße umso mehr, dass das Berliner Landgericht jetzt einer Klage der Stresemann-Enkel Christina und Walter Stresemann gegen die AfD-nahe Gustav-Stresemann-Stiftung stattgegeben habe. Demnach dürfe der Name des langjährigen Außenministers der Weimarer Republik nicht für politische Zwecke vereinnahmt werden. Bettermann verwies in dem Zusammenhang auf die GSI-Gustav-Stresemann-Stiftung, die 2018 vom GSI reaktiviert worden sei, und kündigte darüber hinaus an, dass Stresemann künftig noch präsenter im GSI sein werde: „Eine Ausstellung zu ihm und dem GSI, die wir auf unserer Galerie im Foyer zeigen werden, ist in Vorbereitung. Die Bedeutung seiner Arbeit soll hervorgehoben werden – bis hin in jedes Zimmer. Wer hier im GSI tagt oder übernachtet leistet einen Beitrag zur Demokratie. Sie oder er unterstützt damit auch unsere Bildungsangebote die seit nunmehr 68 Jahren im Sinne Stresemanns ausgerichtet sind.“

Prof. Dr. Andreas Rödder, Präsident der Stresemann-Gesellschaft, verwies in seinem Impulsvortrag zunächst auf die vermeintlichen Widersprüche, die bei näherer Betrachtung von Stresemanns Arbeit von 1919 bis 1929 zeigten. So habe Stresemann den Vertrag von Versailles strikt abgelehnt und auch „reaktionäre Rückfälle“ in den darauf folgenden Jahren erfahren. „Unter dem Eindruck innerer Gewalt bewegte Stresemann sich aber immer mehr zur Mitte hin“, so Rödder. In den darauf folgenden Jahren habe er immer stärker versucht, nationale Interessen und internationale Verständigung zu vereinen. Was Stresemann 1926 als Außenminister mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand besprochen habe, sei „sensationell“ gewesen, erklärte Rödder. Für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich erhielten beide 1926 den Friedensnobelpreis. In den darauf folgenden Jahren habe Stresemann sich mit aller Macht für den Parlamentarismus eingesetzt und habe versucht eine Balance zu schaffen zwischen Parlament und Regierung, aber auch zwischen den Parteien. „Stresemann war ein Mann der Mitte, gerade in Zeiten der Radikalisierung“, schloss Rödder.
Als Mann des Ausgleichs, der Mäßigung, der Mitte beschrieb auch Dr. Christina Stresemann ihren Großvater. Von daher sei es wichtig, dass sein Name nicht der AfD zugeordnet werden dürfe, bezog sie sich auf das Urteil des Berliner Landgerichts. Sie bedankte sich bei der Gelegenheit für die Unterstützung, die sie und ihr Bruder vom GSI, der Stresemann-Gesellschaft und der Friedich-Naumann-Stiftung für den Frieden bei der juristischen Auseinandersetzung gegen eine AfD-nahe Stiftung erfahren hätten. „Sie helfen uns, meinen Großvater ins rechte Licht zu rücken.“ Stresemann betonte zudem, wie wichtig es sei, die demokratischen Wurzeln darzustellen – auch noch vor der Weimarer Republik. Auch Hambacher Fest oder die Märzrevolution von 1848 gehörten in diesen Kanon, der etwa in der Schule gelehrt werden müsste. Die Erfolge von Formaten wie „Babylon Berlin“ zeigten doch, dass es ein großes Interesse vorhanden sei, auf das man eine solche Aufklärungsarbeit aufbauen könne.


Dem Wunsch, Stresemann möge heute wieder präsenter sein, schloss sich auch Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Heinz Paqué, Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, an. „Die Parteien und Stiftungen dürfen ihr eigenes Erbe nicht vernachlässigen“, sagte er. Man müsse sich aber selbstkritisch fragen, ob „sie in der Vergangenheit alles Nötige getan haben, um dieses Erbe zu pflegen“, räumte Paqué selbstkritisch ein. „Wir sind aber stolz, Stresemann in unserer Ahnenreihe zu haben“, so der Vorsitzende.

Moderiert wurde die Runde von Prof. Dr. Ewald Grothe, dem Leiter des Archivs des Liberalismus (ADL) der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Am 10. Dezember jährt sich die Verleihung des Friedensnobelpreises an Gustav Stresemann und Aristide Briand zum 93. Mal. Auch dieses Jahr wird das GSI dies würdigen und gemeinsam mit der Universität Bonn zur zweiten Stresemann-Lecture einladen. In diesem Jahr wird die französische Botschafterin Anne-Marie Descôtes die Lecture halten. Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie hier.

Fotos: Sinnphonie