Eine Wahl – viele Facetten

„Weltbürger versus Populisten? Wie ist die Situation im Haus Europa?“ lautete der Titel der Abschlussveranstaltung der Europawahl-Reihe im GSI am 6. Juni 2019.

Anne SchulzIm Mittelpunkt standen Auswertung und Analyse des Ergebnisses der Europawahl von Ende Mai. Glücklicherweise sei es nicht die oft beschworene Schicksalswahl im negativen Sinne geworden, sagte Anne Schulz, Referentin Internationale Medien/Europäische Öffentlichkeit im GSI, in ihrer Begrüßung. Denn: „Die rechts-populistischen Kräfte, die die europäische Uhr rückwärts drehen wollen, haben zwar Stimmenzuwächse erzielt, aber von einem ‚Erdrutsch‘ kann, bis auf Großbritannien, wohl nicht die Rede sein.“ Die hohe Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik habe zudem gezeigt, dass die Bevölkerung mobilisiert werden kann, „wenn es gilt, einen anti-europäischen Rollback abzuwehren“. Schulz hob hervor, dass die europäischen Themen tatsächlich im Mittelpunkt der Debatte gestanden hätten. „Und gerade viele junge Wählerinnen und Wähler haben hierzulande deutlich gemacht, in den großen Zukunftsfragen, wie der Klimapolitik, kann und darf es kein nationalistisches Kleinklein mehr geben“, so Schulz.

Die Wahlen haben jedoch auch etliche kritischere Aspekte aufgezeigt, die sowohl in einem World-Café diskutiert wurden wie auch im Mittelpunkt der daran anschließenden Podiumsdiskussion standen. Moderiert von dem Journalisten Bernd Neuendorf debattierten Alexandra Geese, frisch gewählte Europa-Abgeordnete der Grünen, Johannes Kohls, Institut für Europäische Politik, und Prof. Dr. Tilman Mayer, der am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn lehrt.

Johannes KohlsZu den neuen Faktoren, die das Wahlergebnis mit sich gebracht hat, zählt u.a. die Erkenntnis, dass das System der beiden großen Parteienfamilien die eher dem konservativen und eher dem sozialdemokratischen Spektrum zugeordnet werden können, durch die Stimmenzuwächse bei Liberalen und Grünen ins Wanken gerät. Johannes Kohls, der als Projektmanager das Projekt „Transformation der europäischen Parteienlandschaft: Ursachen und Wirkung“ betreut, ordnete dies in einen Transformationsprozess ein, der bereits Anfang der 2000er Jahre begonnen habe: „Die Volksparteien werden kontinuierlich schwächer.“ Prof. Mayer ergänzte, dass daraus eine Reihe von neuen Kombinationen im „pro-europäischen Lager“ entsteht, die gemeinsam jeweils eine Blockade des Parlamentes durch rechte Kräfte verhindern können.

Alexandra GeeseDass die rechts-populistischen Kräfte jetzt die Rolle des „Zünglein an der Waage“ einnehmen könnten, wollen die Grünen unbedingt verhindern, so Alexandra Geese. Sie wies darauf hin, dass es im Europäischen Parlament anhand von Sachfragen schon häufiger wechselnde Mehrheiten gegeben habe. Laut Geese würden die Grünen keine „stabile Koalition“ erwarten, aber dafür arbeiten, dass die Erwartungen der Wähler/innen, etwa im Hinblick auf Klimaschutz, Sozialen Fragen und Rechtsstaatlichkeit, durch das neue Parlament berücksichtigt würden.

Prof. Mayer erklärte, der vorher geäußerte „Alarmismus“ habe sich nicht bewahrheitet, allerdings könnten die rechten Parteien „Sand im Getriebe“ sein. Er erläuterte, dass die unterschiedlichen Parteien sehr national-spezifische Programme verfolgten, die im Kern „souveränistisch“ seien. Es würde national gedacht und keine gemeinsame Idee formuliert. Insofern sei ein gewisser „Spaltpilz“ im rechten Lager vorhanden, so Mayer.

Prof. Dr. Tilman MayerModerator Bernd Neuendorf stellte auch zur Diskussion, ob sich das System der zwei Spitzenkandidaten bewährt habe. Hier sah die Podiumsrunde einige Probleme: Unter anderem sei in der deutschen Öffentlichkeit der Eindruck erweckt worden, die Wähler/innen entschieden „automatisch“ über die Besetzung des Kommissionspräsidenten mit. Das System der Spitzenkandidaten hätte somit zwar zur Mobilisierung beigetragen, jedoch Erwartungen geschürt, die rechtlich gar nicht erfüllt werden könnten. Da derzeit viele europäische Spitzenpositionen neu besetzt werden, sei durchaus ein Personaltableau denkbar, bei dem weder Manfred Weber noch Franz Timmermanns Kommissionspräsident wird, so die Runde.

Bernd Neuendorf Wie der Rücktritt von Andrea Nahles als SPD-Parteivorsitzende zeigt, hat das Europawahl-Ergebnis die Politik in der Bundesrepublik stark beeinflusst. Dass auch die Klimapolitik dafür wahlentscheidend war, darüber war sich das Podium einig. Strittig war allerdings die Frage, ob dies auch in Zukunft, etwa bei Bundestagswahlen, so sein werde. Aus Sicht von Prof. Mayer würden sich dann „breite Kreise der Bevölkerung“ anders entscheiden, denn das Klima sei für sie ein „Luxusthema“. Dieser Einschätzung widersprach Alexandra Geese: „Die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels sind unkontrollierbar.“ Fast alle Parteien hätten im Europa-Wahlkampf das Klima-Thema aufgegriffen, ergänzte Johannes Kohls. Selbst die Jugendorganisation der AfD habe entsprechende Vorschläge diskutiert, etwa die Entwicklungshilfe zukünftig an eine 1-Kind-Politik in den Empfängerländern zu binden, um so das Bevölkerungswachstum zu begrenzen.

Mit Blick auf die Bundesrepublik sind für Prof. Mayer insbesondere die Unterschiede zwischen Ost und West 30 Jahre nach der Wiedervereinigung „phänomenal“. Die Angleichung stagniert und offensichtlich habe man dem Ost-Thema „zu wenig Beachtung“ geschenkt. Der Berliner Wissenschaftler Johannes Kohls wies in diesem Zusammenhang auf die Leipziger „Mitte“-Studien hin, die seit den 1990er Jahren gezeigt haben, dass autoritäre, populistische und fremdenfeindliche Tendenzen in den östlichen Bundesländern verbreiteter sind als in den westlichen Bundesländern. Diese Probleme zu bekämpfen sei, so Alexandra Geese, allerdings „keine rein partei-politische sondern eine gesellschaftliche Aufgabe“.

Auch bei diesem Abschlussabend der GSI-Europareihe meldete sich das Publikum erneut lebhaft zu Wort. So wurde gefordert, dass Frauen bei der Vergabe der Spitzenjobs angemessen vertreten sein sollen. Hinterfragt wurde zudem, welche Außenwirkung diese Europawahl im internationalen Kontext haben werde. Dabei wurde positiv vermerkt, dass die Versuche, Europa zu spalten, abgewehrt werden konnten. Die von EU-feindlichen-Kräften gelenkte Online-Kommunikation, wie sie bei der Auftakt-Veranstaltung im April diskutiert worden war, konnte nicht die befürchtete Wirkung erzielen. Jetzt gelte es durch eine kohärente Politik die pro-europäischen Kräfte zu bündeln und die durch das Wählervotum gewonnene Legitimation in konkrete Politik umzusetzen. „Dabei kommt es dann ganz wesentlich auf die europäische Gesinnung der Spitzenfiguren im Parlament, aber auch im Europäischen Rat an.“, lautete das Schlusswort eines Teilnehmers.

Im GSI wird die europäische Politik, auch nach Abschluss der Reihe zur Europawahl 2019, weiter im Fokus stehen.